Werben für die Utopie. Russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts

Idee und Ausgangsbasis

Am Anfang dieses deutsch-russischen Forschungs- und Dokumentationsprojekts (1992 – 2005) stand die Vision, nach Jahrzehnten ideologischer Vereinnahmungen und Verzerrungen erstmals eine umfassende Kulturgeschichte der russischen und sowjetischen Plakatkunst von 1850 bis 2000 zu verfassen, eine Herausforderung, die bisher von keinem Wissenschaftler-Team angegangen worden war. Zu unüberschaubar und heterogen stellte sich das Medium Plakat in seiner Fülle und Differenziertheit dar, das im 20. Jahrhundert in der UdSSR weit über 400.000 Werke (mit einer Gesamtauflage von 8 – 10 Mrd. gedruckten Exemplaren) hervorgebracht hatte und bisher nur in wenigen, zeitlich begrenzten oder ideologisch tendenziösen Arbeiten untersucht worden war. Noch in den 1980er Jahren waren international nicht wesentlich mehr als 400 Plakate bekannt, die weltweit das Bild dieses visuellen Propagandamediums bestimmten, d.h. ca. ein Promille aller erschienenen Werke. Dieses Promille in ein (repräsentatives) Prozent zu verwandeln, war die Leitlinie des Projekts.

Plakat und Visual History

In der Sowjetunion stellte das Plakat seit 1917 ein zentrales, da omnipräsentes Medium des Werbens für die Utopie einer kommunistischen Endzeitgesellschaft wie auch für den Staat und seine Entwicklung zu einer politischen und industriellen Weltmacht dar. Aber auch die Formulierung des Moralischen, die Trennung in Gut und Böse, die Unterscheidung des Eigenen wie Fremden, des Erstrebenswerten wie Abzulehnenden gehörte zur funktionalen Domäne des Plakats, das zu keinem Zeitpunkt eine Intervention in den Alltag der Menschen scheute und kognitive Orientierungen wie affektive Leitplanken für das bereitstellte, was die politische Herrschaft seiner Bevölkerung vermitteln wollte. Last but not least demonstrierte das Plakat auch ein agenda setting der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ziele, denen zu folgen die kommunistische Partei für unverzichtbar hielt. In dem Maße, wie diese Ziele in der Innen- und Außenpolitik der UdSSR wechselten, veränderten sich auch die Inhalte, das ästhetische und kommunikative Design sowie die Propaganda- und Agitationsstrategien des Plakats. Zwar verliefen diese Veränderungen nicht immer synchron zu politischen Umbrüchen und wiesen auch Beharrungstendenzen oder abrupte Innovationen auf, insgesamt gesehen bildeten Plakate jedoch ein visuelles Kondensat der politischen und sozialen Diskurse auf, das es aus heutiger Sicht zu einer symbolhaften Erkennungsmarke seiner jeweiligen Entstehungszeit werden lässt. Während sich das Plakat in der vorrevolutionären Zeit und auch noch in den 1920er Jahren durch eine Vielfalt unterschiedlicher Stile und visueller Sprachen auszeichnete, wurden ein Jahrzehnt später Standards des Sozialistischen Realismus durchgesetzt. In der Zeit der Perestrojka entstand ein neues systemkritisches Plakat.

Durch seinen hohen Verbreitungsgrad besaß das Plakat besondere Bedeutung für das Bewusstsein breiter Schichten der sowjetischen Bevölkerung, die sich, abgesehen von Phasen aktiver Agitation (1917 – 1922, 1941 – 1945), vor allem durch die Unsichtbarkeit des Mediums ergab: das Plakat war über lange Zeiten derart nahtlos in die Weltwahrnehmung des homo sovieticus integriert, das seine Wirkung eher im Bereich visueller Sozialisierung, subkutaner emotionaler Beeinflussung und einer sich kognitiver Reflexion entziehender und damit nicht hinterfragbarer Bewusstseinsprägung zu verorten ist. Nicht von ungefähr werden heutzutage sowjetnostalgische Reminiszenzen oft mit den bekannten Plakaten "von damals" in Verbindung gebracht, mit denen die eigene, individuelle Geschichte der Menschen im unmittelbaren Sinne "bebildert" war. Plakate werden damit zu Katalysatoren für Zeit- und Selbstwahrnehmung, sie sind aber auch Indikatoren für soziokulturellen Normen- und Wertewandel, an dem sowohl gesamtgesellschaftliche als auch kunsthistorische Transformationsprozesse rekonstruiert werden können.

Im Gegensatz zu nicht anwendungsbezogenen Kunstwerken verstand sich das Plakat in der UdSSR als primär abhängig vom Auftraggeber, dessen thematischen, textuellen, funktionalen, graphischen (und in der UdSSR auch stilistisch-ideologischen) Vorgaben und Vorlieben es sich unterzuordnen hatte. Gerade diese Spezifik des Auftragsmediums, in Form wie Inhalten das imagineering der politischen Herrschaft in seiner Kommunikation mit der Bevölkerung zu liefern, macht das Plakat zu einem herausragenden Forschungsgegenstand, da es im Vergleich zum Spiel- oder Dokumentarfilm bzw. später zum Fernsehen immer auch einen ästhetisch überlagerten und kommunikativ gerichteten Aspekt aufweist. Als integraler Teil der sowjetischen Kultur- und Kunstgeschichte stand das Plakat damit im Schnittpunkt ideologischer und machtpolitischer Intentionen und kulturhistorischer Langzeitentwicklungen, gleichzeitig auch im Spannungsfeld von ideologisch motivierter Fremdbestimmung und kreativer Eigendynamik.

Projektrealisation

In enger Kooperation von Dr. Klaus Waschik (Ruhr-Universität Bochum), Dr. Nina Baburina (Russische Staatsbibliothek Moskau) und Konstantin Kharin (Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität) und ihren Teams wurden ab 1992 umfangreiche Dokumentationsarbeiten begonnen, mit denen eine Pilotdatenbank (ca. 300 Werke) zum russischen Plakat aufgebaut wurde. Parallel zu dieser digitalen Bilddatenbank wurden Informationen zu russischen und sowjetischen Plakatkünstlern recherchiert und in eine mit den Bilddaten vernetzten Datenbestand überführt. Im Zeitraum zwischen 1996 und 2000 wurden diese Dokumentationsbemühungen erheblich ausgedehnt; der gegenwärtige digitale Datenbestand weist ca. 4.000 Plakate und über 1.000 Künstler-Viten auf. Außerdem wurde die Kooperation auf eine Reihe weiterer Partner ausgedehnt (Russische Staatsarchive, Künstlerverbände, Bibliotheken etc.). Insgesamt waren ca. 30 Projektmitarbeiter in Deutschland und Russland in Datenrecherche und -verarbeitung involviert. Einen besonderen Aspekt stellten bei diesen Arbeiten spezifische Informationsrecherchen zur sowjetischen Plakat- und Agitprop-Politik dar, die flankierend zwischen 1997 - 2001 in Kooperation mit den ehemaligen zentralen Parteiarchiven (RGASPI, RGANI), dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GA RF), dem Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI) sowie dem Staatsarchiv für Kino- und Fotodokumente (RGAKF) abgewickelt wurden. Bei diesen Arbeiten ging es vor allem um die Rekonstruktion der systeminternen, Staats- wie Parteistrukturen umfassenden Kommunikation, auf dessen Basis die Steuerungsmechanismen des politischen Plakats in der Interaktion von Partei, Verbänden und Verlagen sichtbar wurden. Die Ergebnisse dieses Teilprojekts haben zu einer ca. 4.000 Dokumente umfassenden Text- und Dokumentendatenbank geführt. Ca. 350 ausgewählte Dokumente werden nunmehr auf dieser Webseite präsentiert.

Projektergebnisse

Bereits 1999 publizierten Klaus Waschik, Nina Baburina und Konstantin Kharin in russischer Sprache einen interaktiven Studienkurs zum sowjetischen Plakat in der Revolutionszeit unter dem Titel 1917 г. Плакат в революции - Революция в плакате. Из истории русского и советского плаката начала XX века. Im Anschluss begannen die Autoren mit der Texterstellung einer illustrierten Kulturgeschichte des russischen Plakats, die 2003 unter dem Titel Werben für die Utopie – Russische und sowjetische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache, 2004 unter dem Titel Реальность утопии - Искусство русского плаката ХХ века veröffentlicht wurde. Ergänzt wurde die deutsche wie die russische Ausgabe durch eine DVD-ROM, die neben weiteren Abbildungen (insgesamt ca. 1.100 Plakate und Fotographien) auch weiterführende Texte zur russischen und sowjetischen Geschichte, didaktisch aufbereitete multimediale Präsentationen, differenzierte Suchfunktionen, ein Glossar sowie ein interaktives Virtuelles Museum der russischen Plakatkunst umfasste.

Begleitet wurden die Buchpublikationen durch Plakatausstellungen im Folkwang-Museum Essen (2003) und im Museum für die Zeitgeschichte Russlands Moskau (2004) sowie im Museum der Stadt Bietigheim-Bissingen (2005), auf denen die 118 Plakate des Virtuellen Museums im Original gezeigt wurden. Weitere Ausstellungen an der Ruhr-Universität Bochum (2008, 2017) folgten.

Zeitgleich ging im Oktober 2005 eine umfangreiche Webseite unter der Adresse www.russianposter.ru ans Netz, auf der alle im Rahmen des Gesamtprojekts dokumentierten Plakate, Künstler, Texte und Medien veröffentlicht wurden. Die aktuelle Webseite basiert auf einem Relaunch des Plakatservers aus dem Jahr 2024.